See der Schatten

- Leseprobe - 

 

DasLeben verfolgt uns wie unser eigener Schatten.

Nur wenn alles Schatten ist, ist kein Schatten.

Das Leben verfolgt uns nur dann nicht,

wenn wir uns ihm ausliefern.

Fernando Pessoa, Das Buch der Unruhe

 

 


 

1.Kapitel

»Jetzt kommt schon, beeilt euch ein bisschen. Ich bin kurz vorm Verhungern«, rief Jared über die Schulter den beiden Mädchen zu, die ein Stück hinter ihm liefen. Er bahnte sich einen Weg zwischen hohen Bäumen hindurch. Durch das dichte Unterholz kam er nur mühsam vorwärts. Außerdem schleppte er eine schwere Kühlbox mit Getränken, mit der er ständig an hervorstehenden Zweigen hängen blieb. Er fluchte, als er beinahe gestolpert wäre, weil er mit den Füßen in die dornigen Ranken geriet, die sich überall durch das Unterholz zogen.

»Jetzt jammere nicht rum, wir sind eben nicht so schnell«, gab seine Cousine Tess zurück. Dann grinste sie. »Außerdem würde es dir ganz gut tun, mal ein bisschen weniger zu essen.«

Jared tat entrüstet. »Wie bitte?« Er drehte sich zu den Mädchen um und schob sein T-Shirt bis zur Brust hoch. »Seht ihr etwa auch nur ein Gramm Fett an diesem wundervollen Adoniskörper?«

Joanna, eine Freundin von Tess und Jared, lachte laut auf. »Jetzt lass mal gut sein, wir beeilen uns ja schon. Wir wollen ja nicht, dass du noch irgendwelche Tiere anfällst, die hier am See herumkriechen, und sie bei lebendigem Leib verspeist!«

Tess verzog angewidert das Gesicht. »Igitt, manchmal hast du echt eine eklige Fantasie«, sagte sie kopfschüttelnd.

Kurz darauf erreichten die drei ihren Lieblingsplatz, an dem sie ein Picknick veranstalten wollten. Es war eine kleine Landzunge, die in den Shadow Lake hineinragte. Nur wenige Menschen kannten die Stelle. Selbst die meisten Einheimischen waren noch nie dort gewesen, denn die Landzunge war vom Land aus hinter hohen Bäumen und dichtem Gestrüpp verborgen, durch das man sich erst mühsam einen Weg bahnen musste, um sie zu erreichen. Vom Wasser wurde sie durch vorgelagerte Felsen blockiert, sodass man sie mit dem Boot nicht ansteuern konnte.

Aber gerade das war der Grund, warum Tess so gern hierherkam. Hier hatten sie ihre Ruhe. Die Wahrscheinlichkeit, gestört zu werden, war äußerst gering.

Die Landzunge bestand hauptsächlich aus Sand und größeren Steinen, aber dazwischen gab es auch ein paar Stellen mit herrlich weichem Gras. Auf einer davon breitete Tess die Decke aus, die sie den Weg entlang getragen hatte, und Joanna stellte den Korb mit dem mitgebrachten Abendessen daneben. Jared hatte inzwischen die Schuhe ausgezogen und watete in der Nähe des Ufers im Seewasser herum. Es war Anfang Juni. Tagsüber war es für diese Jahreszeit sehr heiß gewesen, auch jetzt waren die Steine noch von der Sonne aufgewärmt. Das Wasser dagegen war angenehm kühl.

Zufrieden ließ Tess sich auf die Decke fallen. Als Jared am Nachmittag den Vorschlag gemacht hatte, gegen Abend noch an den See zu gehen, war sie zuerst wenig begeistert gewesen. Sie wollte eigentlich lieber im Garten bleiben, ein bisschen Musik hören und in Ruhe mit Joanna quatschen. Aber Jared hatte mit einem begeisternden Funkeln in seinen grünen Augen behauptet, dass es doch viel mehr Spaß machen würde, mal wieder etwas zu dritt zu unternehmen. Er hatte nicht locker gelassen, bis Tess schließlich seufzend zugestimmt hatte.

Und er hatte recht, dachte Tess jetzt mit einem Blick auf die tief stehende Sonne, die ein postkartenkitschiges Glitzern auf den See zauberte.

»Wir haben` s ganz schön gut, oder?«, meinte Joanna, die sich neben ihrer Freundin auf die Decke kniete und ebenfalls auf das Wasser sah. »Manche Leute würden sonst was dafür zahlen, in so einer Umgebung zu leben.«

Tess lehnte sich entspannt zurück und schloss die Augen. »Und wir kriegen das alles umsonst«, grinste sie. Als Joanna nicht antwortete, sah sie zu ihr herüber. »Alles in Ordnung mit dir?«, erkundigte sie sich.

»Ja, schon.« Einen Moment zögerte Joanna und starrte gedankenverloren auf die ruhige Wasseroberfläche, dann sagte sie leise: »Aber es gibt da etwas, das ich dir unbedingt erzählen muss.«

Tess sah sie an und hob interessiert die Augenbrauen. »Um was geht es denn?«

Sie wurde von Jared unterbrochen,der vom Wasser zurückkam. Seine Schuhe trug er in der Hand. Seine nassen Füßehinterließen dunkle Flecken auf den Steinen. »Was tuschelt ihr denn da?«, wollte er wissen.

Joanna warf Tess einen vielsagenden Blick zu. »Nachher«, flüsterte sie. »Nichts«, sagte sie dann laut zu Jared.

Der setzte sich zu den beiden auf die Decke und zog den Korb zu sich heran. Mit zufriedenem Grinsen packte er eine Tüte Brot, eine Dose mit Salami und Schinken, eine Packung Käsescheiben und eine Tube Mayonnaise aus. Den Beutel mit Salat, Tomaten und Äpfeln warf er Tess zu, die ihn gerade noch auffangen konnte.

»Das gesunde Zeug könnt ihr Mädels haben, das ist nichts für echte Kerle«, erklärte er gelassen. Er begann, sich mit seinen Zutaten ein Sandwich zu belegen.

Flink schnappte ihm Joanna die Dose mit Schinken und Salami aus der Hand. »Das glaubst aber auch nur du«, feixte sie.

»Was hält der echte Kerl denn davon, wenn er sich zur Abwechslung mal nützlich macht und sich um die Getränke kümmert?«, schlug Tess mit einem gespielten Augenaufschlag vor.

Jared grunzte. »Na gut, aber nur weil ihr sonst ja doch keine Ruhe gebt.« Er stand auf und öffnete die Kühlbox. Als er sich wieder umdrehte, hielt er mit selbstgefälligem Grinsen eine Flasche Weißwein hoch. »Zur Feier des Tages habe ich uns was Besonderes organisiert.«

Tess wurde ein wenig mulmig zumute. Sie waren zwar alle schon achtzehn, aber Jareds Mutter Ellen, bei der sie beide wohnten, mochte es überhaupt nicht, wenn sie unter der Woche Alkohol tranken.Tess wusste, dass sie in dieser Beziehung absolut keinen Spaß verstand. »Wo hast du die denn her?«, fragte sie vorsichtig.

»Die habe ich ganz zufällig in Mums Vorräten entdeckt«, gab Jared gelassen zurück. Im Gegensatz zu Tess schien er kein schlechtes Gewissen zu haben.

»Vielleicht sollten wir das lieber lassen«, wandte Joanna ein. Auch ihr schien nicht ganz wohl zu sein bei dem Gedanken, dass ihre Eltern mitbekamen, dass sie Wein getrunken hatten. Doch Jared hatte die Flasche bereits geöffnet und ließ den Wein in drei mitgebrachte Gläser laufen. Zwei davon reichte er den Mädchen.

Nachdem die beiden sich überwunden und mit Jared auf den Abend angestoßen hatten, fielen sie hungrig über ihreSandwichs her. Dazu nahm Tess noch drei Äpfel und zwei Orangen aus der Tüte. Mit einem großen Küchenmesser, das sie aus Tante Ellens Küche stibitzt hatte,schnitt sie das Obst in Spalten und reichte den Teller herum.

Als alles aufgegessen war, räumte Tess den Abfall in den Korb, um ihn später mit zum Auto zurückzunehmen. Dann setzte sie sich wieder zu ihren Freunden. Jared erzählte Joanna gerade, wie er zusammen mit seinen Freunden den neuen Vertretungslehrer in Spanisch mit dreisten Streichen aus der Fassung gebracht hatte. Tess kannte die Geschichte schon, aber sie lachte trotzdem mit, obwohl einige der Streiche hart an der Grenze dessen waren, was sie noch in Ordnung fand. Jared machte manchmal wirklich ziemlich üble Sachen, aber gleichzeitig war er so charmant, dass ihm niemand lange böse sein konnte.

Er kann sich viel mehr erlauben als andere, dachte Tess bei sich, nicht ohne eine Spur von Bewunderung. Egal was er macht, er kommt immer damit durch.

Lange saßen sie zusammen, quatschten, machten Witze und lachten. Die Stimmung war ausgelassen, was wahrscheinlich nicht zuletzt am Wein lag. Sie alle waren Alkohol kaum gewohnt.Nicht nur Ellen achtete penibel darauf, dass sie außer zu besonderen Anlässen nichts tranken. Auch Joannas Eltern waren in der Beziehung sehr streng. Und da ihnen zudem noch das einzige Lebensmittelgeschäft in Shadow Lake gehörte, war es extrem schwierig, überhaupt an Bier oder Wein zu kommen, von härteren Sachen ganz zu schweigen.

Als es jedoch zu dämmern begann, wollte Tess nach Hause. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie ihrer Tante versprochen hatte, sich noch um das Kräuterbeet im Garten zu kümmern. Vielleicht schaffte sie es noch, ein bisschen Unkraut herauszuzupfen, bevor es ganz dunkel wurde. Außerdem war es deutlich kühler geworden und sie fror ein wenig.

»Es ist schon ganz schön spät. Sollten wir nicht langsam aufbrechen?«, schlug sie den anderen vor.

»Ooch, es ist doch gerade so gemütlich«, gab Joanna zurück. Sie hatte sich auf die Seite gelegt und stützte sich mit einem Ellenbogen ab. Jared lag ihr gegenüber genauso da. In der freien Hand hielt er sein Weinglas, an dem er immer wieder nippte.

»Finde ich auch. Ein bisschen können wir ruhig noch bleiben«, stimmte er zu und grinste Joanna verschwörerisch an.

»Aber mir ist kalt«, beschwerte sich Tess. Sie wandte sich an Joanna. »Außerdem wird es bald dunkel. Deine Eltern werden sich bestimmt Sorgen machen, wenn du nicht nach Hause kommst.«

Ihre Freundin schüttelte gleichmütig den Kopf. »Nee, das ist kein Problem. Die denken doch, dass ich bei euch zu Hause bin. In den nächsten zwei Stunden geben sie noch Ruhe.«

»Also, es steht zwei zu eins«, grinste Jared. »Das bedeutet, wir bleiben noch.«

Tess stand auf und schlang die Arme um sich. Mit den Händen rieb sie sich die Oberarme, an denen sie Gänsehaut bekommen hatte. Sie ärgerte sich, dass sie nur ein ärmelloses Top angezogen hatte. »Dann gehe ich eben noch mal zum Auto zurück und hole meine Jacke.«

»Soll ich das für dich machen?«, bot Jared an, doch Tess verdrehte die Augen und zog eine Grimasse. Er hatte wieder den Ton angeschlagen, den sie gar nicht an ihm mochte. So, als ob er mit einem kleinen Kind redete.

»Danke, das kann ich schon selbst! Wenn ihr mit eurem Gespräch fertig seid, könnt ihr mir ja entgegen kommen«, gab sie patzig zurück. Ohne ein weiteres Wort schnappte sie sich den Picknickkorb mit den Abfällen und machte sich auf den Weg zum Auto.


 

2.Kapitel

Nach etwa einer Viertelstunde erreichte Tess den Parkplatz, auf dem Jared seinen alten, klapprigen Honda abgestellt hatte. Sie schloss ihn auf, schleuderte den Korb auf die Rückbank und nahm sich ihre Jacke vom Beifahrersitz. Sie war ziemlich schnell vom See hergelaufen und sogar ein bisschen ins Schwitzen geraten. Trotzdem zog sie die Jacke an. Sie wollte keine Erkältung riskieren.

Dann überlegte sie. Eigentlich hatte sie überhaupt keine Lust, wieder zum Seeufer zurückzulaufen, nur um dann denselben mühsamen Weg mit Joanna und Jared noch einmal zu gehen. Vielleicht sollte sie einfach hier am Auto warten, bis die beiden ebenfalls genug hatten. Irgendwann würden sie schon auftauchen. Sie konnte sich ja in der Zwischenzeit ins Auto setzen, das Radio einschalten und Musik hören. Allerdings hatte sie keine Ahnung, wie lange es ihre Freunde noch auf der Landzunge aushielten. Sie schienen es sich ja gerade bequem machen zu wollen, als Tess aufgebrochen war. Die Aussicht darauf, eine halbe Ewigkeit auf dem Parkplatz zu verbringen, sagte ihr auch nicht besonders zu.

Einen Augenblick lang war sie in Versuchung, sich einfach ins Auto zu setzen und allein nach Hause zu fahren. Aber zum einen war das natürlich unfair gegenüber Jared und Joanna, die dann die eineinhalb Meilen in den Ort hätten laufen müssen, zum anderen würde sie fürchterlichen Ärger mit Tante Ellen bekommen. Abgesehen davon merkte sie die Wirkung des Weins ziemlich heftig. Sie war keinen Alkohol gewohnt, und obwohl sie kaum mehr als ein Glas getrunken hatte, war ihr ein bisschen schwindlig.

Also blieb ihr wohl nichts anderes übrig, als doch noch einmal zur Landzunge hinunter zu gehen. Missmutig knallte sie die Tür des Honda zu, schloss den Wagen ab und lief los.

Diesmal hatte sie den Eindruck, dass der Weg sich noch viel länger hinzog als sonst. In der anbrechenden Dunkelheit waren hervorstehende Äste und Steine schwer zu erkennen, sodass Tess besonders vorsichtig gehen musste. Sie fluchte, als sie mit dem Fuß so heftig gegen einen großen Stein stieß, dass sie nur noch mit Mühe das Gleichgewicht halten konnte.

Das nächste Mal würde sie direkt nach Hause fahren, selbst wenn sie damit einen Riesenaufstand von Tante Ellen auslöste, nahm sie sich vor. Sollten Jared und Joanna doch laufen, das war schließlich nicht ihr Problem. Ihre Stimmung wurde immer schlechter, je näher sie der Landzunge kam. Sie hatte zwar nicht erwartet, dass Joanna und Jared früher aufbrechen und ihr entgegen kommen würden, aber insgeheim hatte sie doch darauf gehofft.

Aber so sehr sie auch lauschte, sie hörte weder Stimmen noch das Knacken von trockenen Zweigen oder andere Geräusche, die darauf hindeuteten, dass jemand in ihrer Nähe entlanglief.

Plötzlich jedoch stutzte sie. Sie war gerade unterhalb einer recht steil ansteigenden Felswand entlanggelaufen, als sie den Eindruck hatte, seitlich von ihr, oberhalb der Felswand, hätte sich etwas bewegt. War da nicht ein Geräusch gewesen? Schritte?

Sie blieb stehen und lauschte einen Moment angestrengt, aber alles blieb ruhig. Nur das langsam abflauende Gezwitscher der Vögel und das Rauschen des Windes in den Blättern über ihr waren zu hören.

»Hallo?«, rief sie vorsichtig. »Joanna? Jared? Seid ihr das?«

Sie bekam keine Antwort.

Tess schüttelte den Kopf. »Jetzt sehe ich schon Gespenster«, murmelte sie und setzte ihren Weg fort. Sie redete sich ein, dass es nur das Scharren eines Tieres oder das Rauschen des Windes gewesen war, das sie erschreckt hatte.

Auch als sie weiterlief, blieb alles ruhig. Zuerst war Tess genervt darüber, dass nichts von ihrem Cousin und ihrer Freundin zu hören war. Also muss ich doch ganz bis zum See runter, dachte sie und verzog das Gesicht. Doch je näher Tess der Landzunge kam, umso merkwürdiger erschien ihr die Stille.

Sie wurde unruhig. Normalerweise müsste sie doch schon lange die Stimmen von ihren Freunden hören. Es standen ja nur noch ein paar Bäume zwischen ihr und dem Seeufer. Wieder blieb sie stehen und lauschte. Sie hörte das leise Plätschern des Wassers und den Wind, der die Blätter in den Baumkronen über ihr bewegte. Die Geräusche des Waldes und des Sees kamen ihr jetzt unnatürlich laut vor, aber sie hörte weder Jareds noch Joannas Stimme. Waren die beiden vielleicht doch schon gegangen und sie hattensich verpasst? Es gab mehrere Wege von der Landzunge zum Parkplatz. Vielleicht hatten Joanna und Jared ja einen anderen genommen als normalerweise. Eigentlich war das eher unwahrscheinlich, doch ganz ausschließen konnte sie es natürlich nicht.

Tess runzelte nachdenklich die Stirn. Dann hatte sie eine Idee: Vielleicht waren die beiden ja auch eingeschlafen. Gerade Jared hatte ziemlich viel von dem Wein getrunken, da war das gar nicht so abwegig. Vermutlich saß Joanna auf der Decke und wartete auf sie, während Jared vor sich hinschnarchte.

Von diesem Gedanken halbwegs beruhigt lief Tess weiter. Doch kurz bevor sie sich ihren Weg durch die dichtstehenden Sträucher vor dem Seeufer bahnte und freien Blick auf die Landzunge hatte, stieg ein ungutes Gefühl in ihr auf, das sich nicht mehr verdrängen ließ. Sie merkte, dass sie eine Gänsehaut bekam, und schlang unwillkürlich die Arme um sich.

Irgendetwas stimmte da nicht. Sie wusste selbst nicht, warum, aber sie war sich plötzlich ganz sicher. Da war etwas passiert!

Sie beschleunigte ihre Schritte und wand sich durch dichtes Gestrüpp. Dass sie sich den Ärmel ihrer Jacke an einem Aststummel aufriss, und auch die Haut eine ordentliche Schramme abbekam, merkte sie kaum. Zu groß war die Sorge um ihre Freunde.

»Jared? Joanna? Wo seid ihr? Jetzt sagt doch was!«, schrie Tess. Panik lag in ihrer Stimme, aber es kam wieder keine Antwort.

Noch bevor sie es sah, bemerkte sie den seltsamen Geruch. Es roch irgendwie nach Metall. So wie eine Münze, die man lange in der warmen Hand gehalten hatte. Sie stürzte hinter den Sträuchern hervor – und blieb abrupt stehen.

Im Licht der untergehenden Sonne sah sie ihre Freundin. Joanna lag zwischen den Felsen, ihr Körper seltsam verdreht, der Kopf halb im Wasser. Die eisblauen Augen, um die Tess sie immer beneidet hatte, waren vor Schreck weit aufgerissen, ihr Gesicht war in einemerstaunten, ja fassungslosen Ausdruck erstarrt. Die langen blonden Haare lagen im Wasser, von den Wellen des Sees leicht hin- und hergetrieben.

Und überall war Blut, unglaublich viel Blut! Joannas T-Shirt, das vorher strahlend weiß gewesen war, hatte sichdunkelrot verfärbt, ihre Jeans wirkte im dämmrigen Licht beinahe schwarz. DasSeewasser, in das immer noch Blut aus den verschiedenen Wunden sickerte,verdünnte und verteilte es wie eine rote Wolke und schien es noch zuvervielfachen.

Im Sand vor Joannas leblosem Körperlag das große Messer aus Tante Ellens Küche, mit dem Tess noch kurz vorher dasObst geschnitten hatte. Der Griff sah sauber aus, aber die lange, breite Klingewar ebenfalls voller Blut.

Instinktiv wollte Tess ihrer Freundin helfen, wollte zu ihr hinlaufen, sie aufwecken, ihr hochhelfen. Aber sie schaffte es nicht, sich von der Stelle zu rühren. Joanna ist tot! Du kannst nichts mehr für sie tun, sagte ihr eine innere Stimme.

Reglos starrte Tess auf ihre Freundin. Sie wollte schreien, aber selbst das konnte sie nicht. Die Panik und der Schrecken schnürten ihr die Kehle zu.

Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie so an der Landzunge gestanden hatte. Es konnten Sekunden oder auch Minuten gewesen sein, möglicherweise sogar noch länger. Plötzlich durchzuckte sie ein Gedanke: Wo war Jared? Er musste doch hier irgendwo sein.

Sie sah sich verwirrt um, aber ihr Cousin war nicht zu sehen.

»Jared?«, versuchte sie zu schreien, doch es kam kaum mehr als ein Krächzen aus ihrer Kehle. »Jared?«

Keine Antwort.

Wieder versuchte sie es. »Jared? Wobist du? Sag doch was!« Ihre Stimme klang hell und schrill. Mit angehaltenem Atem lauschte sie. Doch auch jetzt antwortete niemand.

Mit einem Mal fühlte sich Tess so allein wie noch nie in ihrem Leben. Sie hatte nur einen Gedanken: Sie musste hier weg, und zwar so schnell wie möglich.

Ohne noch einen Blick auf Joanna zu werfen, drehte sie sich um und rannte los. Sie spürte weder die Zweige, die ihr ins Gesicht schlugen, noch die Dornen, die sich in ihre Arme und Beine bohrten.

Sie wollte nur eines: endlich raus aus diesem Albtraum!


 

 

 

 

 

 

Sieben Jahre später


 

 

 

3.Kapitel

Bereits das Ortsschild brachte sie aus der Fassung. Shadow Lake. Nur zwei Worte reichten aus, um eine riesige Welle von Erinnerungen über Tess Hennessey hereinbrechen zu lassen.

Unzählige längst verdrängte Bilder tauchten plötzlich wieder auf, Bilder einer unbeschwerten Kindheit: Sie erinnerte sich an die Picknicks, die Tante Ellen regelmäßig am Waldrand mit ihnen veranstaltet hatte und an ausgelassene Ballspiele mit Jared auf der Wiese hinter dem Haus. Dann hatte sie plötzlich Bilder von sich selbst mit ihrer besten Freundin Kate vor Augen. Als Schmetterlinge verkleidet sangen und tanzten sie bei der Theateraufführung in der Grundschule.

Tess lächelte, als sie an ihren ersten Kuss dachte. Jerry Petersen, den sie mit dreizehn Jahren in einem Zeltlager kennengelernt hatte, war am letzten Abend auf sie zugekommen und hatte sie  regelrecht damit überfallen. Dabei war er so nervös gewesen, dass er ihr mit seiner Zahnspange beinahe die Lippe blutig geschlagen hätte. Als sie daraufhin angefangen hatte zu kichern, war er beleidigt abgezogen. Sie hoffte, dass sein männliches Ego keinen dauerhaften Knacks abbekommen hatte.

Und natürlich erinnerte Tess sich auch an ihren ersten Liebeskummer. Sie war gerade fünfzehn gewesen und Andy Cunningham hatte mit ihr Schluss gemacht. Stundenlang hatte sie mit Jared am Ufer des Sees gesessen. Er hatte tröstend den Arm um sie gelegt und ihr ins Ohr geflüstert, dass Andy Cunningham sich deswegen irgendwann selbst in den Hintern beißen würde.

Der See.

Unwillkürlich schüttelte Tess den Kopf, um die aufsteigenden Gedanken zu vertreiben. Sie wollte nicht an den See denken. Aber so sehr sie sich auch zwang, sich nur die vielen schönen Momente ins Gedächtnis zu rufen, die sie am Shadow Lake verbracht hatte, es tauchten doch immer wieder die gleichen Erinnerungen auf: an den einen Abend am See, der ihre Kindheit so abrupt beendet und ihr Leben für immer verändert hatte.

Sie krallte die Hände so fest um das Lenkrad, dass sie schon nach ein paar Sekunden anfingen zu schmerzen. Voll auf die Straße konzentriert fuhr sie weiter.

Es war kurz vor Anbruch der Dämmerung, als Tess endlich ihr Ziel erreicht hatte, den kleinen Ort Shadow Lake in Oregon, in dem das Haus ihrer Tante Ellen lag.

Mehr als sechs Stunden war es nun her, dass sie in San Francisco, wo sie inzwischen lebte, losgefahren war. Von der langen Fahrt waren ihre Nackenmuskeln schmerzhaft verspannt. Ihre Beine dagegen fühlten sich seltsam taub und geschwollen an. Ein Teil von ihr sehnte sich danach, endlich auszusteigen und sich zu strecken und zu dehnen, während ein anderer Teil sich wünschte, niemals anzukommen.

Unterwegs hatte sie keine Pause gemacht, obwohl sie mehr als einmal das Bedürfnis verspürt hatte, anzuhalten und sich ein bisschen zu bewegen. Aber sie war sich nicht sicher gewesen, ob sie nach einer Unterbrechung überhaupt noch die Kraft aufgebracht hätte, ihren Weg nach Shadow Lake fortzusetzen. Also war sie einfach immer weitergefahren. Dabei hatte sie das mulmige Gefühl, das schon lange vor ihrer Abfahrt eingesetzt und sich mit jeder Meile verstärkt hatte, so gut wie möglich ignoriert.

Erst als Tess das Ortsschild von Shadow Lake passiert hatte, ließ sich das Unbehagen trotz aller Bemühungen nicht mehr ausblenden. Während sie langsam die breite Hauptsraße entlangfuhr, nahm sie die Eindrücke der Umgebung in sich auf. Sie kannte jedes Haus, jede Straßenecke. Viel hatte sich nicht verändert, nachdem sie den Ort in Richtung Kalifornien verlassen hatte. Einige Häuser waren frisch gestrichen worden, andere waren noch heruntergekommener, als Tess sie in Erinnerung hatte. Aber der Charakter von Shadow Lake war derselbe geblieben. Es war immer noch der saubere, gepflegte Ort, in dem viele brave Bürger wohnten – zumindest dem äußeren Anschein nach, dachte Tess verbittert. Ob dieser Eindruck lange Bestand hatte, wenn man es wagte, hinter die Kulissen zu sehen, war eine ganz andere Frage.

Tess merkte, dass sie leicht zu zittern begonnen hatte. Obwohl sie genau wusste, was mit ihr los war, schob sie es auf den Kaffee, den sie während der Fahrt beinahe literweise in sich hineingeschüttet hatte.

Fast sieben Jahre lag es zurück, dass Tess aus dem kleinen, eigentlich malerischen Ort weggezogen war. Er lag abgeschieden am Ufer des gleichnamigen Sees im Süden von Oregon. Damals hatte sie sich geschworen, nie wieder in ihrem Leben einen Fuß in die Gegend zu setzen, am besten noch nicht einmal in den Staat Oregon zurückzukehren.

Dass sie ihre Meinung geändert hatte, lag an dem Brief, den sie zehn Tage zuvor in ihrem Briefkasten gefunden hatte.

Sie war müde von der Arbeit nach Hause gekommen und hatte eigentlich nichts anderes mehr tun wollen, als ein heißes Bad zu nehmen und dann mit einem spannenden Buch ins Bett zu schlüpfen. Zuerst hatte sie aber noch nach der Post sehen wollen.

Als sie den Briefkasten aufgeschlossen hatte, war ihr zwischen den Rechnungen und den Werbesendungen gleich der Brief aufgefallen. Der Umschlag war in einem dezenten elfenbeinfarbenen Ton gewesen und hatte edel, aber geschäftsmäßig gewirkt. Als Absender war eine Anwaltskanzlei in Portland, der Hauptstadt von Oregon, angegeben gewesen. Beim ersten Blick auf das Kuvert war Tess gleich zu der Überzeugung gekommen, dass er keine guten Nachrichten enthalten konnte. Sie hatte sich nicht die Zeit genommen, den Brief mit in ihre Wohnung zu nehmen, sondern hatte ihn gleich an Ort und Stelle geöffnet. Mit zitternden Fingern hatte sie den Umschlag aufgerissen, den ebenfalls elfenbeinfarbenen Brief herausgezogen und aufgefaltet.

Sehr geehrte Mrs Hennessey, hatte dort unter dem eleganten Logo der Anwaltskanzlei gestanden, zu unserem Bedauern müssen wir Ihnen mitteilen, dass unsere Mandantin Mrs Ellen Hennessey tödlich verunglückt ist. Als einzige lebende Angehörige hat unsere Mandantin Sie zu ihrer Alleinerbin bestimmt …

Tess hatte nicht mehr weiterlesen können. Fassungslos hatte sie auf den weiteren Text des Briefes gestarrt, ohne den Sinn der Worte zu erkennen. Dann war sie wie in Trance die Treppe nach oben gestiegen, hatte die Tür aufgeschlossen und sich im Schlafzimmer auf ihr Bett fallen lassen. Wie betäubt hatte sie vor sich hingestarrt. Sie war nicht einmal in der Lage gewesen, den Brief noch einmal zu lesen. Die Wörter verschwammen einfach vor ihren Augen.

Tante Ellen war tot? Das konnte doch gar nicht sein. Doch nicht ihre Tante! Nein, das konnte alles nur ein Irrtum sein, ein schreckliches, makabres Missverständnis.

Doch leider war es das nicht gewesen, wie sich in den nächsten Tagen herausgestellt hatte. Bei vielenTelefonaten mit der Anwaltskanzlei und verschiedenen Behörden hatte Tess nach und nach erfahren, was passiert war.

Ihre Tante Ellen war demnach über das verlängerte Wochenende nach New York geflogen. Auf dem Rückweg hatte das Flugzeug kurz vor der Landung in Portland technische Probleme bekommen und war im Gifford Pinchot National Forest abgestürzt. Es hatte bei dem Unglück keine Überlebenden gegeben.

Sicher, Tess hatte in der Zeitung von dem Absturz der relativ kleinen Maschine gelesen, und in den Nachrichten waren auch die obligatorischen Bilder der rauchenden Flugzeugtrümmer zu sehen gewesen. Wie immer bei schlechten Nachrichten hatte sie ein gewisses Mitleidmit den Opfern und mit ihren Angehörigen verspürt, die auf so brutale und unerwartete Weise einen geliebten Menschen verloren hatten. Dass sie jedoch so direkt und persönlich betroffen sein könnte, daran hätte sie nicht einmal im Traum gedacht.

In den darauffolgenden Tagen hatte sie eher funktioniert als gelebt. Solange sie sich um ihre Arbeit in der kleinen Boutique gekümmert hatte, die sie seit etwas mehr als zwei Jahren betrieb, hatte sie den Schmerz und die Schuldgefühle verdrängen können. Selbst die Beratung ihrer Kunden hatte einigermaßen geklappt, wenn sie sich selbst auch manchmal wie ein Roboter vorgekommen war.

Wenn sie aber dann abends allein in ihrem Apartment gesessen hatte, waren ihre Gefühle wie ein Sturzbach über sie hereingebrochen. Ab und zu hatte sie sich bei dem Gedanken ertappt, dass irgendjemand da oben es wohl auf sie abgesehen haben musste. Dass sie nach allem, was sie schon erlebt hatte, jetzt auch noch diesen Schicksalsschlag hinnehmen musste, war einfach nicht fair!

Erst als sie für sich den Entschluss gefasst hatte, selbst nach Shadow Lake zu fahren und endlich einen Schlussstrich unter dieses Kapitel ihres Lebens zu ziehen, war es ihr etwas besser gegangen. Auch wenn ihr vor der Begegnung mit der Vergangenheit graute, hatte sie doch endlich wieder ein Ziel. Außerdem war es wesentlich besser, selbst aktiv zu werden, anstatt nur die weiteren Ereignisse abzuwarten.

Jetzt stellte sie ihren Wagen, einen kleinen weißen VW, vor dem Haus ihrer Tante ab und schaltete den Motor aus, blieb aber im Auto sitzen. Einen Moment zögerte sie noch. Sie sah zum Haus hinüber, das einmal ihr Zuhause gewesen war. Es schien sich in den letzten Jahren kaum verändert zu haben. Die verwitterte hellblaue Holzfassade mit den weißen Fensterrahmen hätte dringend einen frischen Anstrich gebraucht, und auch das Dach sah nicht so aus, als würde es dem rauen Klima noch lange trotzen. Aber der Vorgarten trug eindeutig Ellens Handschrift. Sie hatte schon immer ein besonderes Geschick im Umgang mit Pflanzen gehabt, und dementsprechend blühten vor der Veranda üppige Büschel von Vergissmeinnicht, Tulpen und Goldlack. Alles wirkte vertraut und doch irgendwie wie aus einer anderen Welt.

Tess hatte so lange daran gearbeitet, die Vergangenheit hinter sich zu lassen, dass sie in diesem Augenblick zweifelte, ob ihre Entscheidung wirklich die richtige gewesen war. Ein paar Tage lang hatte sie überlegt, einfach in San Francisco zu bleiben und die Räumung des Hauses einem auf Haushaltsauflösungen spezialisierten Trödler zu überlassen. Den Verkauf hätte dann ein Makler aus Medford oder der Umgebung übernehmen können. Es wäre kein Problem gewesen, die entsprechenden Aufträge per Telefon oder schriftlich zu erteilen und sich anschließend einfach das Geld auszahlen zu lassen. Sie hätte das unangenehme Kapitel einfach abhaken können, ohne überhaupt in die Nähe von Shadow Lake kommen zu müssen.

Schließlich war sie aber zu dem Entschluss gekommen, dass sie sich selbst um alles kümmern musste. Irgendwann musste sie sich ihren Erinnerungen stellen, so schlimm sie auch waren. Nur so konnte sie endgültig mit ihrer Vergangenheit in Shadow Lake abschließen.

Also holte sie einmal tief Luft, sammelte alle Willensstärke, die sie aufbringen konnte, und stieg aus dem Auto. Nach der langen Autofahrt tat ihr alles weh. Sie stemmte die Hände in den Rücken und streckte sich ausgiebig. Dabei ruhte ihr Blick unverwandt auf dem Haus ihrer Tante.

Während sie auf das vertraute unddoch irgendwie so fremd wirkende Haus zuging, musste sie noch einmal an das Schreiben der Anwaltskanzlei denken, in dem ihr die schreckliche Nachricht von Ellens Tod mitgeteilt worden war. Als einzige lebende Angehörige hat unsere Mandantin Sie zu ihrer Alleinerbin bestimmt …

Tess spürte, dass sie eine Gänsehaut bekam, und rieb sich mit beiden Händen über die Arme. »Ich soll deine einzige lebende Angehörige sein, Tante Ellen?«, murmelte sie fast unhörbar. »Es gab manchmal Zeiten, da habe ich fast selbst daran geglaubt. Aber inzwischen gibt es außer dir wohl niemanden mehr, der so denkt.«

 

 

 

- Ende der Leseprobe -