Merle Andersen

 

Team IKARUS

Das Geheimnis des Tagebuchs

 

edition elibresca

 

Alle Rechte vorbehalten

© 2011 Verlag Wassermann, Ilvesheim

edition elibresca

ISBN: 978-3-943859-02-7 (epub)

 ISBN: 978-3-943859-03-4 (PDF)

 

 

 

 

- LESEPROBE - 

 

Kapitel 1

 

    „Das ist echt nicht mehr zu ertragen, hoffentlich sind die bald fertig!“ Genervt schlug Isabelle ihr Buch zu und verdrehte die Augen, während das dröhnende Grollen eines Bohrhammers Decke und Wände des Zimmers erzittern ließ.

    Ihr Zwillingsbruder Uli, der mit seinem Freund Robin am Computer saß, lachte. Die beiden vertrieben sich die Zeit damit, im Internet nach lustigen Videoclips zu suchen und sie an ihre Freunde zu schicken. Offenbar hatten sie gerade ein besonders komisches Video entdeckt, denn Robin prustete laut los und kippte dabei beinahe von seinem Stuhl. Im letzten Moment konnte er sich aber noch an der Tischkante festhalten.

    „Wie kann man nur so blöd sein, so ein Idiot“, grunzte er, während Isabelle weiter in ihrem Sessel schmollte. Normalerweise hätte sie sofort neugierig nachgesehen, worüber sich die Jungen so amüsierten, doch heute konnte sie sich nicht einmal dazu aufraffen. Stattdessen starrte sie weiter missmutig aus dem Fenster.

    Uli warf seiner Schwester einen besänftigenden Blick zu. Dabei musste er sich ein Grinsen verkneifen. Das hätte sie jetzt garantiert auf die Palme gebracht, und das wollte er nicht riskieren. Ihm ging der ständige Lärm inzwischen auch auf die Nerven, aber er versuchte, sich so gut wie möglich abzulenken.

    „Gleich ist es sechzehn Uhr, dann machen die Handwerker Feierabend und wir haben unsere Ruhe“, meinte er.

    „Na hoffentlich!“, brummte Isabelle. Sie nahm eines der mit dickem Samt bezogenen Kissen, die sie vorher achtlos vom Sessel auf den Boden geworfen hatte, auf den Schoß und boxte mit der Faust hinein. „Ansonsten könnte ich wirklich noch auf die Idee kommen, das Gerüst umzuschmeißen, auf dem die den ganzen Tag herumklettern.“

    Sie wusste selbst, dass das nicht fair war. Schließlich machten die Handwerker nur ihre Arbeit, und dabei war Baulärm eben nicht zu vermeiden. Aber sie hatte nun einmal schlechte Laune. Schon den ganzen Tag regnete es, als würde die nächste Sintflut anbrechen, obwohl der Wetterbericht strahlenden Sonnenschein vorausgesagt hatte. Am Himmel hingen schwere, dunkelgraue Wolken und immer wieder peitschten heftige Windböen den prasselnden Regen gegen die großen Fensterscheiben.

    Zuerst hatte sie das gar nicht so schlimm gefunden, denn sie hatte die Zeit dazu genutzt, ein paar Veränderungen an der Website vorzunehmen, die sie zusammen mit ihren Freunden ins Leben gerufen hatte. Darauf veröffentlichten sie Informationen für Schüler aus der Region. Neben Neuigkeiten und Terminen aus den verschiedenen Schulen gab es Berichte über aktuelle Themen. Außerdem konnten Schüler Grüße senden oder Suchmeldungen aufgeben.

    Jetzt aber war alles auf dem neuesten Stand und das Wetter machte immer noch keine Anstalten, sich zu bessern. Dazu kam noch, dass ihre Eltern das Dach der alten Villa, in der sie wohnten, renovieren ließen. Seit Tagen hallte der Lärm der Bauarbeiten durch das Haus. „Ich möchte wissen, wie lange die da oben noch brauchen, eigentlich sollte die ganze Renovierung doch nur fünf Tage dauern. Jetzt sind es fast schon zehn und es ist immer noch kein Ende in Sicht.“ Lustlos ließ Isabelle die Beine über die Lehne des Ledersessels baumeln und drehte eine Strähne ihrer langen dunklen Haare zu einer Kordel.

    „Bei der Planung war ja auch noch nicht abzusehen, dass es Probleme mit den Dachbalken geben würde“, gab Uli zu bedenken. „Außerdem müssen die Handwerker alles gegen den starken Regen schützen, und das ist ziemlich aufwendig.“

    Isabelle seufzte. „Jaja, ich weiß. Ist ja schon gut“. Eigentlich waren ihr die Bauarbeiten ziemlich egal, aber sie boten einen guten Anlass, ein bisschen herumzumaulen, wie sie sich insgeheim eingestand.

    Wie meistens hatten sich die Zwillinge und Robin in ihr Lieblingszimmer, die Bibliothek, zurückgezogen. Der große Raum enthielt Tausende von Büchern in alten Holzregalen, die den gesamten Platz zwischen den bodentiefen Fenstern einnahmen und bis zur Decke reichten. Dazwischen standen lederbezogene Ohrensessel und bequeme Sofas sowie zwei Schreibtische.

    Stundenlang konnte Isabelle damit zubringen, in den Büchern zu stöbern. Dabei war sie schon auf manche Rarität gestoßen. Besonders gern hatte sie die Sagen aus der griechischen Mythologie, in denen es von Göttern und Fabelwesen nur so wimmelte, aber auch Geschichten über archäologische Expeditionen ins alte Ägypten faszinierten sie sehr. Außerdem mochte sie den Geruch der alten Bücher, eine eigentümliche Mischung aus Staub und Papier.

    Der Computer, das einzige wirklich Moderne im Zimmer, war normalerweise hinter der Holzvertäfelung der einen Wand versteckt. Man musste erst ein Holzpaneel zur Seite und ein anderes wie einen Tisch nach unten klappen, dann konnte man den Monitor sehen und eine Tastatur samt Maus herausziehen.

    Inmitten der vielen Bücher wirkte das Hightech-Gerät seltsam fehl am Platz. Trotzdem herrschte in der Bibliothek immer eine angenehm ruhige und gemütliche Atmosphäre, und da Herr und Frau Hohenstein, die Eltern von Isabelle und Uli, diesen Raum fast nie nutzten, hatten die Zwillinge ihn kurzerhand in Beschlag genommen.

    Isabelles Miene hellte sich schlagartig auf, als es klingelte. Rasch setzte sie ihre Brille wieder auf, die sie vorher aus Langeweile umständlich geputzt hatte.

    „Ah, das wird Sophie sein!“, rief sie. Flink sprang sie aus dem Sessel und eilte die breite, geschwungene Treppe zum Eingang hinunter. „Lassen Sie mal, Frau Dürrheim, ich mach schon auf. Ist für mich“, rief sie dabei der Haushälterin der Hohensteins zu, die ebenfalls auf dem Weg zur Haustür war.

    Frau Dürrheim nickte lächelnd und wandte sich wieder in Richtung Küche, aus der der verführerische Duft frischgebackener Kekse drang. Die moppelige Haushälterin aß selbst für ihr Leben gern, und sie liebte es, andere mit ihren Köstlichkeiten zu verwöhnen. Isabelle schlitterte die letzten zwei Meter über die blank polierten Fliesen und riss dann stürmisch die schwere Haustür auf.

    „Da bist du ja endlich, ich dachte schon, du kommst nicht mehr!“, quiekte sie zur Begrüßung und nahm ihre Freundin Sophie in die Arme. „Bäh, du bist ganz nass“, beschwerte sie sich dann.

    Sophie zog die Augenbrauen hoch, während sie zu Isabelle aufschaute. Sie war gute zehn Zentimeter kleiner als ihre Freundin, war aber fest davon überzeugt, dass sie den Größenunterschied irgendwann noch aufholen würde.

    „Falls es dir noch nicht aufgefallen sein sollte: Es regnet“, bemerkte sie spöttisch, während sie sich aus ihrer knallgelben Regenjacke schälte und dabei eine ansehnliche Pfütze Regenwasser auf dem Fußboden hinterließ. „Das ist auch einer der Gründe, warum ich so spät bin. Außerdem musste meine Mutter erst noch tausend Sachen auf dem Weg hierher erledigen, und das hat natürlich ewig gedauert. Naja, du kennst sie ja.“ Sie grinste und schüttelte ihre wilden roten Locken, die trotz Kapuze ziemlich nass geworden waren.

    „Allerdings“, gab Isabelle lachend zurück. Frau Karnbaum, Sophies Mutter, war eine sehr liebenswerte und sympathische Frau, aber total unorganisiert. Wo immer sie war, verbreitete sie unglaubliches Chaos um sich herum und hatte die erschreckende Fähigkeit, auch alle anderen damit anzustecken. Trotzdem mochten Isabelle und die anderen Kinder sie sehr gern.

    Die beiden Mädchen holten sich ein Tablett mit Tee und noch ofenwarmen Keksen aus der Küche, das Frau Dürrheim für sie hingestellt hatte. Sophie schnupperte demonstrativ nach dem Duft des Gebäcks.

    „Frau Dürrheim, wenn die Kekse nur halb so gut schmecken, wie sie riechen, haben sie sich wieder einmal selbst übertroffen“, rief sie, woraufhin die Haushälterin über das ganze Gesicht strahlte.

    Dann verzogen sich die beiden wieder in die Bibliothek, wo sie zusammen mit Uli und Robin über das Gebäck herfielen. Dabei alberten sie ausgelassen herum, sodass sie gar nicht bemerkten, dass sich keine fünf Minuten später die Tür der Bibliothek öffnete und eine hübsche Blondine den Kopf hereinsteckte.

    „Habt ihr etwas gegen ein bisschen Gesellschaft einzuwenden?“, fragte sie lächelnd, nachdem sie die anderen eine Weile beobachtet hatte.

    „Gegen deine niemals!“, antwortete Robin kauend, wobei er ein paar Kekskrümel über den Teppich sprühte.

    „Hey Anna, komm doch rein“, forderte auch Isabelle sie auf und klopfte einladend auf einen freien Sessel.

    Anna wohnte seit einem Jahr mit ihren Eltern neben den Hohensteins. Sie war ungefähr so alt wie Uli und Isabelle, besuchte aber eine andere Schule. Anfangs hatten die Zwillinge sie nicht ausstehen können, weil sie arrogant und eingebildet gewirkt hatte. Besonders Isabelle hatte mit Vorliebe über die hochnäsige Tussi von nebenan gelästert und bissige Kommentare verteilt, wenn sie sich begegnet waren.

    Erst nachdem Uli und sie herausgefunden hatten, dass Anna mit ihrem Gehabe nur ihre Unsicherheit verbergen wollte, hatten sich die drei angefreundet. Inzwischen war Isabelle ihr Verhalten ziemlich peinlich, aber Anna war zum Glück nicht nachtragend.

    „Eigentlich wollte ich heute an den Badesee“, erklärte Anna, während sie sich in den weichen Sessel fallen ließ. „Aber bei dem Wetter macht das wohl wenig Sinn. Also dachte ich, ich schau mal, ob ihr zuhause seid.“

    „Na, dann ist das IKARUS-Team ja mal wieder vollzählig“, grinste Uli und die anderen nickten zustimmend. Sie waren eben eine eingeschworene Gemeinschaft.

    Als Frau Dürrheim vor einem halben Jahr im Krankenhaus gelegen hatte, hatten die fünf eine Genesungskarte für sie geschrieben und beim Unterschreiben festgestellt, dass die Anfangsbuchstaben ihrer Vornamen IARUS ergaben. Kurzerhand hatten sie beschlossen, sich unter diesem Namen zusammenzutun und hatten dazu noch Kröte als Maskottchen aufgenommen, um ihn zu vervollständigen. Kröte war der Hund der Hohensteins, eine braun-weiße Französische Bulldogge. Eigentlich war sie eine echte Adlige mit dem hoheitsvollen Namen Cassandra vom Kaisertal, aber alle waren sich darin einig, dass dieser Name überhaupt nicht zu ihrem frechen Wesen passte.

    Inzwischen schmückte das IKARUS-Logo auch die von ihnen erstellte Internetseite.

    Im Moment lag der kleine Hund auf dem Bauch unter dem Tisch, alle viere von sich gestreckt, und lauerte aufmerksam auf jeden Kekskrümel, der auf den Teppich fiel. Unauffällig steckte Anna ihr einen Keks zu, wurde aber sofort von Sophie zurechtgewiesen: „Anna, hör auf damit, der Hund wird zu fett, und Süßigkeiten sind sowieso nicht gut für Tiere.“

    „Ach, ein kleiner Keks macht doch nichts“, rechtfertigte sich Anna mit einem breiten Grinsen. „Und du Verräter kaust das nächste Mal etwas unauffälliger“, schimpfte sie Kröte aus, die ihr auffordernd die Hand leckte. Sie hätte gern auch noch einen Nachschlag angenommen.

    „Hat einer von euch eine Idee, was wir jetzt unternehmen können?“, fragte Uli, nachdem er sich genüsslich den letzten Keks in den Mund gestopft hatte.

    „Wir könnten einen Film anschauen“, schlug Anna vor, stieß damit aber bei den anderen nicht auf Begeisterung.

    „Am liebsten würde ich ja ein bisschen rausgehen“, maulte Sophie und machte einen langen Hals, um besser aus dem Fenster sehen zu können. Nach wie vor zogen dicke graue Wolken über den Himmel. Von der Sonne war nichts zu sehen. „Aber es regnet immer noch wie aus Kübeln. Ich fürchte, wir sitzen hier fest.“

    „Es sei denn, wir ziehen unsere Gummistiefel an und hüpfen draußen durch die Pfützen“, warf Robin scherzhaft ein, was ihm von den anderen aber nur ein müdes Gähnen einbrachte.

    Isabelle runzelte die Stirn, während sie überlegte, aber plötzlich hellte sich ihre Miene auf. „Ich hab eine Idee!“, rief sie begeistert. „Ihr wisst ja, dass unser Dach erneuert wird. Normalerweise ist der Dachboden vollgestopft mit allem möglichem Kram, aber jetzt sind die ganzen Sachen in der oberen Etage in den Gästezimmern zwischengelagert worden. Da müssen jede Menge interessante Dinge dabei sein. Was haltet ihr davon, wenn wir dort ein bisschen herumstöbern?“

    „Au ja“, stimmte Anna sofort zu, und Robin nickte.

   „Hhm, könnte ganz interessant sein“, bestätigte auch Uli. „Die Handwerker müssten inzwischen weg sein, jedenfalls habe ich schon eine ganze Weile keinen Baulärm mehr gehört.“

    „Na dann nichts wie hoch!“ Isabelle schwang sich elegant aus ihrem Sessel. Endlich hatte sich ihre Laune gebessert und sie platzte fast vor Tatendrang.

 

 

Kapitel 2

 

    In den Gästezimmern der Hohensteins im ersten Stock herrschte ein unbeschreibliches Durcheinander. Die Möbel im ersten Zimmer, in das die fünf stürmten, waren mit weißen Tüchern verhängt, um sie vor Schmutz und Staub zu schützen. Zwischen ihnen türmten sich unzählige Kisten und Kartons. Auch mehrere große Schrankkoffer hatten die Handwerker vom Dachboden in das größte Gästezimmer geschleppt. Über das ganze Chaos hatte sich eine dünne Schicht grauen Staubs von den Bauarbeiten gelegt, sodass es aussah, als lagerten die Sachen schon seit Jahrzehnten in diesem Raum.

    Anna zog die Augenbrauen hoch. „Frau Dürrheim wird bestimmt nicht gerade begeistert sein, wenn wir in diesem Dreck herumwühlen und hinterher den Staub durch das ganze Haus tragen“, meinte sie skeptisch.

    „Ach, das ist kein Problem“, winkte Uli mit einer lässigen Handbewegung ab. „Wir bieten ihr hinterher einfach unsere Hilfe beim Putzen an. Sie nimmt sie sowieso nicht an, ist aber total glücklich über das Angebot und kommt gar nicht auf die Idee, wegen des Drecks zu meckern.

    “Isabelle gab ihrem Bruder einen Stoß in die Rippen. „Du bist ganz schön durchtrieben“, meinte sie, musste dann aber ebenfalls grinsen. „Allerdings muss ich zugeben, dass du recht hast. Frau Dürrheim schwebt immer im siebten Himmel, wenn man ihr anbietet, sie zu unterstützen. Da kann sie vorher noch so sauer gewesen sein. Unserer Expedition steht also nichts mehr im Weg.

    “Gefolgt von den anderen machte sie sich über eine der massiven Holztruhen her, die direkt an der Tür stand. Unter großer Kraftanstrengung klappte sie den schweren Deckel hoch, wobei ein schrilles Quietschen ertönte. Leider gab es in der Truhe nichts Interessantes zu entdecken. Sie enthielt nur alte Bettwäsche und Handtücher. Also sah Isabelle sich gleich nach einer anderen Stöbergelegenheit um.

    Plötzlich schrie Sophie entsetzt auf. Hinter einer großen Kiste hatte sie einen ausgestopften Braunbären entdeckt. Er stand auf den Hinterbeinen aufgerichtet und überragte Sophie um fast einen halben Meter, wobei er sie aus zornig funkelnden Glasaugen anstarrte und in seinem weit aufgerissenen Maul sein imposantes Gebiss zur Schau stellte.

    „Seht Euch das an!“, meinte sie aufgebracht. Ihre Wangen hatten sich kräftig gerötet.

    Robin versuchte sie zu beruhigen: „Immer mit der Ruhe, der tut nichts mehr, der ist längst tot“.

    Daraufhin regte sich Sophie aber nur umso mehr auf. Ihr Gesicht nahm einen noch dunkleren Farbton an. „Das ist es doch gerade“, ereiferte sie sich. „Das arme Tier! Ich finde es total widerlich, ein Tier erst umzubringen und dann auch noch sein Haus damit zu dekorieren.“

    „Reg dich ab, Sophie“, gab Uli lässig zurück. „Das ist Kasimir, und er ist schon über hundert Jahre alt. Selbst wenn man ihn nicht erschossen hätte, wäre er inzwischen längst an Altersschwäche gestorben. Das heißt, wenn er nicht hier wäre, hätten ihn die Ameisen schon längst aufgefressen.“

    „Außerdem hat er zu seinen Lebzeiten ein ganzes Dorf terrorisiert und einmal sogar fast ein Kind getötet. Die Leute waren wirklich erleichtert, als er endlich erlegt wurde“, stimmte Isabelle zu, die sich noch gut an die Erzählungen ihrer Großeltern erinnern konnte.

    „Trotzdem ist das Vieh gruselig“. Anna schauderte und wandte sich ab. Dann klappte sie eine große Kiste auf. „Aber guckt mal hier!“ Sie zog ein altes Rüschenkleid aus der Kiste und hielt es vor sich. „Damit wäre man heute der Star auf jedem Kostümball.“ Lachend vollführte sie ein paar Tanzschritte und Drehungen.

    „Darf ich bitten, mein Fräulein?“, warf Robin ein und machte eine tiefe Verbeugung vor ihr.

    Die anderen lachten laut los, denn er hatte einen alten roten Schlapphut auf dem Kopf, eine verspiegelte Riesensonnenbrille auf der Nase und eine unglaublich breite, grün-gelb gestreifte Krawatte umgebunden. Ausgelassen tanzten die beiden eine Runde durch das Zimmer, bis ein erstickter Aufschrei von Sophie alle herumfahren ließ.

    Sie hatte einen der großen Schrankkoffer geöffnet, wobei ihr eine Schaufensterpuppe entgegengefallen war. Jetzt kämpfte sie dagegen an, zusammen mit der Puppe nach hinten umzukippen. Sofort sprang Uli zu ihr und hielt die Puppe fest.

    „Ich finde das gar nicht lustig!“, schimpfte Sophie, als die anderen schon wieder laut losprusteten. „Könnt ihr Euch vorstellen, was das für ein Schreck für mich war?“

    Sie holte tief Luft und seufzte laut. „Das ist heute wirklich nicht mein Tag. Erst frisst mich fast dieser Bär auf und jetzt das. Ich mache ahnungslos den Koffer auf und da springt mir dieser Kerl entgegen!“

    „Und noch dazu nackt“, fügte Isabelle mit gespielter Entrüstung hinzu und wandte sich an die Puppe. „Wie unanständig von dir!“

    „Ich denke, da kann ich Abhilfe schaffen!“ Grinsend nahm Robin die grelle Krawatte ab und schlang sie der Schaufensterpuppe um den Hals. „So, jetzt hat er wenigstens etwas an.“

    Eine ganze Weile alberten die fünf ausgelassen herum, verkleideten sich mit den altmodischen Kleidungsstücken aus den Schrankkoffern und stöberten in Kisten und Kartons.Während Anna und Robin Modezeitschriften aus den achtziger Jahren durchblättern und vor Vergnügen aufquietschten, wenn sie besonders schrille Kreationen entdeckten, kramten Uli und Sophie in einem riesigen Stapel alter Schallplatten.

    „He, Isabelle, kannst du dir vorstellen, dass unsere Eltern früher mal die Rolling Stones und Michael Jackson gehört haben?“ Uli hielt zwei der gefundenen Schallplattencover hoch und grinste triumphierend. „Sie behaupten doch immer, mit Mozart und Beethoven aufgewachsen zu sein. Na, das werde ich ihnen demnächst mal unter die Nase reiben, wenn sie wieder nörgeln, dass ich die Musik zu laut aufgedreht habe.“

    Als seine Schwester nicht antwortete, sprach er sie noch einmal an: „Hey, Isabelle, ich rede mit dir!“

    Aber Isabelle reagierte immer noch nicht. Sie saß im Schneidersitz auf einem der abgedeckten Betten zwischen jeder Menge Krimskrams, völlig in ein uralt aussehendes Buch vertieft.

    „Was hast du denn da?“ Uli setze sich neben seine Schwester und versuchte einen Blick auf ihren Fund zu erhaschen. Auch die anderen waren aufmerksam geworden und scharten sich um sie.

    „Ich glaube, das ist ein altes Tagebuch“, antwortete Isabelle ohne aufzublicken. „Vorn steht auch ein Name drin, Eleonore Theodora Hohenstein. Dem Namen nach müsste sie eine Verwandte von uns gewesen sein.“„Nie von ihr gehört“, murmelte Uli nachdenklich. „Von wann ist denn das Tagebuch? Das müsste doch drinstehen.“

    Isabelle schlug ein paar Seiten zurück. „Der erste Eintrag ist vom 28. Juni 1923, der letzte vom 14. Februar 1924. Aber es hört mittendrin auf. Etwa ein Viertel der Seiten ist noch frei. Aus irgendeinem Grund hat Eleonore plötzlich aufgehört, weiter in ihrem Tagebuch zu schreiben.“ Sie spürte ein leichtes Schaudern in sich aufsteigen.

    „Das ist ja eine merkwürdige Handschrift, kannst du das wirklich lesen?“, wollte Anna mit gerunzelter Stirn wissen und strich mit beiden Händen ihre blonde Mähne zurück. Das Tagebuch interessierte sie eigentlich gar nicht so sehr, aber da die anderen so fasziniert davon waren, wollte sie nicht die Spielverderberin sein. Viel lieber hätte sie aber weiter in den alten Zeitschriften herumgestöbert.

    „Bei der Schrift handelt es sich wahrscheinlich um Sütterlin, eine zu dieser Zeit sehr gebräuchliche Schrift“, vermutete Robin. „Ich habe sie schon öfter in Museen auf historischen Dokumenten gesehen.“ Er kniff die Augen zusammen und versuchte ein paar Worte zu entziffern. „Aber das ganze Buch zu lesen wäre mir wohl zu anstrengend“, gab er grinsend zu.

    „Wir hatten das mal in der Schule, letztes oder vorletztes Jahr“, erklärte Isabelle. „Wir mussten die Schrift im Kunstunterricht lernen, und ein Gedicht in Superschönschrift damit schreiben, erinnerst du dich?“

    Sophie, die mit Isabelle in eine Klasse ging, nickte. „Klar, die alte Grambeck ist damals total darauf abgefahren, aber ich habe die Buchstaben eher abgemalt, als sie wirklich zu lernen. Und nicht einmal das ist mir besonders gut gelungen. Das war die schlechteste Note, die ich jemals in Kunst gekriegt habe. Vielleicht hätte ich mich doch mehr damit beschäftigen sollen. Man glaubt kaum, wofür Schulwissen doch einmal nützlich werden kann.“

    „Vorausgesetzt, man tut nicht nur so, als wüsste man etwas. Stimmt`s, Sophie?“, stichelte Robin und handelte sich damit einen Tritt gegen das Schienbein ein. Weil Sophie aber keine Schuhe anhatte, tat ihr der Tritt mehr weh als ihm. Die anderen lachten, während sie sich jammernd den großen Zeh hielt.

    „Ich finde es allerdings sehr merkwürdig, dass das Buch hier so einfach zwischen all den Sachen vor sich hingammelt“, bemerkte Robin, nachdem sich das allgemeine Gelächter gelegt hatte. „Ich meine, irgendwie passt das gar nicht hierher, oder?“

    „Ja genau“, stimmte Anna zu. „Seht euch doch mal um. Die anderen Sachen sind alle unpersönlich, so ein Zeug, was jeder irgendwo herumliegen hat.“ Sie warf einen kurzen Seitenblick auf den ausgestopften Bären und grinste. „Naja, zumindest die meisten Sachen. Aber so ein Tagebuch, das hat doch bestimmt einen Wert, wenn auch nur einen ideellen. So etwas schmeißt man doch nicht einfach auf den Dachboden.“

    „Es lag ja auch nicht einfach so herum, sondern war gut versteckt“, berichtete Isabelle und hielt ein auf Hochglanz poliertes, mit kunstvollen Ornamenten verziertes Holzkästchen hoch. „Da war Handarbeitszeug drin, Nadeln, Stickgarn, Wolle und so weiter, eher langweiliges Zeug. Aber als ich den Deckel wieder zuklappen wollte, hat er geklemmt. Dabei habe ich das Buch entdeckt. Das Kästchen ist mit Samt ausgeschlagen, und das Buch steckte zwischen dem Holz und dem Samtfutter.“

    „Dann hatte derjenige, der das Handarbeitskästchen auf den Dachboden gebracht hat, wahrscheinlich gar keine Ahnung, was er da zwischen dem ganzen alten Krempel verstaut hat“, bemerkte Uli.In diesem Moment rief Frau Dürrheim zum Abendessen und unterbrach damit ihre Überlegungen. Sophie sprang sofort auf. „Na endlich“, sagte sie freudig. „Ich habe einen Riesenhunger. Hoffentlich gibt es was Leckeres.“

    „Bei Frau Dürrheim doch immer“, grinste Robin und flitzte hinter Sophie her die Treppe hinunter. Während Isabelle den anderen folgte, durchzuckte sie ein Gedanke: Wenn das Handarbeitskästchen tatsächlich Eleonore gehört und ihr als Versteck für das Tagebuch gedient hatte, war sie vermutlich die Erste, die außer der Schreiberin darin las. Sie schluckte und merkte, dass sie eine Gänsehaut bekam. 

 

 

Kapitel 3

 

   Am nächsten Tag trafen sich die fünf gleich nach den Hausaufgaben wieder in der Bibliothek der Hohensteins. Uli und Isabelle hatten alle zusammengetrommelt, um ihnen die letzten Neuigkeiten über das Tagebuch zu erzählen.

    Nachdem Sophie aus der Küche wie am Vortag Tee und Kekse geholt hatte, kuschelten sich alle in die gemütlichen Sessel und Sofas. Nach wie vor prasselte Regen gegen die hohen Fenster, was aber die Atmosphäre in der Bibliothek nur noch heimeliger machte. Diesmal meckerte keiner über das schlechte Wetter. Alle waren viel zu neugierig, mehr über das Tagebuch zu erfahren.

    Vor einem der hohen Fenster lag Kröte auf ihrer Decke, hatte alle Viere in die Luft gestreckt und schnarchte laut. Nachdem sie bei Frau Dürrheim zum Mittagessen die doppelte Ration Hundefutter erbettelt hatte, konnte sie nicht einmal der verführerische Duft der Kekse von ihrem Schönheitsschlaf ablenken.

    „Wir haben gestern Abend, nachdem ihr nach Hause gegangen wart, noch unsere Eltern interviewt, besser gesagt unseren Vater“, berichtete Uli. „Er hat uns erzählt, dass Eleonore unsere Ururgroßtante war, die jüngere Schwester von unserem Ururgroßvater. Sie ist sehr jung gestorben, so mit achtzehn oder neunzehn, deshalb haben wir vorher wohl noch nichts von ihr gehört.“

    „Genauer gesagt ist sie die Treppe hinuntergestürzt und hat sich das Genick gebrochen“, warf Isabelle ein.

    „Das ist ja schrecklich, war das etwa hier im Haus?“, fragte Sophie entsetzt.

    Uli nickte ernst. „Mein Vater meinte, es wäre die große Treppe in der Eingangshalle gewesen.“

    Mit einem leichten Gruseln dachte Sophie daran, dass sie genau diese Treppe noch vor ein paar Minuten fröhlich hochgesprungen war. In Zukunft würde sie wohl etwas mehr Respekt vor den Stufen haben, gestand sie sich ein.

    „Was die Sache aber so mysteriös macht“, fuhr Uli mit verschwörerischer Stimme fort, „ist, dass nie ganz geklärt werden konnte, ob der Sturz ein Unfall war. Vielleicht ist Eleonore einfach nur gestolpert und hat das Gleichgewicht verloren. Möglicherweise war aber noch jemand beteiligt, der sie die Treppe hinuntergestoßen hat.“

    „Es gab wohl damals ein paar Hinweise, dass noch jemand im Haus gewesen war, aber die Polizei konnte nicht feststellen, wer es war, und ob derjenige etwas mit dem Sturz zu tun gehabt hat“, unterbrach Isabelle, was ihr einen scharfen Seitenblick ihres Bruders eintrug.

    Isabelle wusste, dass er die Neuigkeit gern selbst erzählt hätte, aber sie war viel zu aufgeregt und konnte es gar nicht abwarten, ihr Wissen mit den anderen zu teilen. Also warf sie ihrem Bruder ein bezauberndes, entschuldigendes Lächeln zu, was ihn sofort besänftigte.

    Seine kleine Schwester wusste schon ganz genau, wie sie ihn um den Finger wickeln konnte, dachte Uli grinsend.

    „Die hatten vermutlich auch nicht das, was wir jetzt haben, nämlich das Tagebuch von Eleonore“, merkte Robin an. „Gibt es darin einen Hinweis darauf, was wirklich passiert ist?“

    „Ja klar“, warf Anna ein und lachte. „Eleonore hat bestimmt notiert, dass sie sich vorgenommen hat, in der nächsten Zeit zur Abwechslung mal die Treppe hinunter zu stolpern.“

    Isabelle bedachte sie mit einem vernichtenden Blick. „Ihr werdet es kaum glauben, aber es gibt tatsächlich einen Hinweis.“ Sie hatte bis spät in die Nacht wachgelegen und das Tagebuch gelesen, obwohl es mit zunehmender Müdigkeit immer schwieriger gewesen war, die zierliche Handschrift ihrer Ururgroßtante zu entziffern.

    „Also, den Tagebucheintragungen nach war Eleonore eine junge Frau, die hier in diesem Haus sehr behütet aufgewachsen ist. Sie ist nicht zur Schule gegangen, sondern hatte einen Hauslehrer.“ Isabelle lehnte sich zurück und trank einen Schluck heißen Tee, bevor sie weitersprach. „Außerdem hat sie keine Ausbildung oder so etwas Ähnliches gemacht, wie wir es heute kennen, sondern sie wurde von ihrer Mutter in die Führung des Haushalts eingewiesen.“

    „Was ja auch nicht ganz ohne war, vor allem zu der damaligen Zeit“, unterbrach Sophie lebhaft. „Immerhin gab es sicher eine ganze Reihe Hausangestellte, die dirigiert werden mussten und die Organisation von gesellschaftlichen Anlässen ist eine ziemliche Herausforderung.“

    Robin grinste. „Heute nennt sich das Family-Manager oder Event-Manager.“

    „Oder Staubsaugerpilotin“, fügte Uli spöttisch hinzu.

    „Wie auch immer“, fuhr Isabelle ungerührt fort. Sie wollte jetzt endlich ihre Geschichte loswerden und hatte gerade keinen Sinn für Albernheiten. „Jedenfalls schreibt Eleonore irgendwann, dass sie auf einem Empfang einen reichen Bankier namens Graf von Dulkenberg getroffen hat. Der gute Graf scheint ein Auge auf unser Großtantchen geworfen zu haben, zumindest den Geschenken nach zu urteilen, die daraufhin hier im Haus eintrudelten.“

    „Was denn für welche?“, hakte Robin interessiert nach.

    Isabelle begann, an den Fingern abzuzählen: „Angefangen von Blumen über Pralinen bis hin zu kostbarem Porzellan wohl alles, womit man damals bei einer Frau Eindruck schinden konnte.“

    „Es kann sich schon lohnen, sich so einen Graf zu halten“, bemerkte Anna mit einem süffisanten Grinsen.

    „Allerdings“, erwiderte Isabelle. „Vor allem, wenn man sich verlobt. Eleonore schreibt nämlich, dass der Graf zu Sylvester um ihre Hand angehalten hat. Und dass er ihr dazu ein ganz besonderes Geschenk gemacht hat.“

    „Und was war das für ein Geschenk?“, wollte Sophie wissen.

    „Das ist ja gerade das Problem. Darüber schreibt sie leider nichts“, seufzte Isabelle und griff nach dem letzten Keks. „Nur, dass es etwas sehr Wertvolles gewesen sein muss. Sie wollte es aber geheim halten bis zu ihrer Hochzeit, die im Sommer geplant war.“

    Robin war wie so oft schon einen Schritt weiter. „Und du meinst, dass dieses Geschenk zu ihrem Tod geführt haben könnte?“, fragte er, wobei er sich ratlos mit der Hand durch die widerspenstigen Haare fuhr.

    „Genau das.“ Isabelle kaute genüsslich auf ihrem Keks herum. Sie genoss es, die Unwissenheit der anderen voll auszukosten. „Ein paar Tage nach Sylvester hat der Graf anscheinend eine längere Geschäftsreise ins Ausland angetreten, und kurz darauf berichtet Eleonore, dass sie sich bedroht fühlt. Von wem schreibt sie nicht, aber sie hat Angst, dass ihr jemand ihren Schatz stehlen könnte.“

    „Das schreibt sie so? Ihren Schatz?“, staunte Sophie.

    „Wortwörtlich“, bestätigte Isabelle. „Sie beschließt also, den Schatz zu verstecken und ihn so bis zur Hochzeit in Sicherheit zu bringen. Ein Mann namens Jean Gerome soll ihr dabei helfen, was er wohl auch tut. Jedenfalls schreibt sie fünf Tage vor Ende der Aufzeichnungen Folgendes.“ Isabelle blätterte kurz in dem kleinen Büchlein, bis sie die richtige Stelle gefunden hatte.

„Also, hier steht: Jetzt bin ich sicher, dass er meinen Schatz nicht an sich bringen kann. Er ist sicher verborgen, behütet von unserer Familie und beschützt von den Engeln. Erst zu meiner Vermählung wird er wieder das Sonnenlicht erblicken.“

    „Beschützt von den Engeln?“ Anna runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. „Was ist denn das für ein Schwachsinn?“ Ihre Stimme klang enttäuscht. Offenbar hatte sie mehr von Isabelles Enthüllung erwartet.

    „Wahrscheinlich befindet sich das Versteck in der Nähe eines Engelsbildes oder einer Engelsstatue“, warf Robin ein und wandte sich dann an Isabelle. „Meinst du, Eleonore könnte von diesem geheimnisvollen Mann, der ihr Geschenk stehlen wollte, die Treppe hinuntergestoßen worden sein?“

    Isabelle nickte. „Da bin ich fast sicher. In ihrem vorletzten Eintrag schreibt sie nämlich: Heute Nacht war jemand hier im Haus. Ich habe ihn gehört, und ich glaube, dass er es war. Ich fürchte, er wird nicht aufgeben, bis er gefunden hat, was er sucht. Ich habe furchtbare Angst! Wenn ich ihm das Versteck nicht verrate, wird er mir vielleicht etwas antun. Wenn doch meine Familie nur bald wieder zurückkommt. Aber es sind noch vier Tage, bis sie aus Italien zurückerwartet werden. Was soll ich nur tun?

    Isabelle blickte die anderen nacheinander forschend an, die betroffen schwiegen. Auch sie selbst hatte das Gefühl, als wäre es im Zimmer gerade etwas kälter geworden. Obwohl sie die Stelle im Tagebuch am Vorabend schon ein paarmal gelesen hatte, war es doch etwas ganz anderes, sie jetzt laut vorzulesen und die Reaktion der anderen darauf zu beobachten.

    „Ich finde das echt unheimlich“, sagte Sophie schließlich und schlang die Arme um die angezogenen Knie. „Stellt euch mal vor, ihr seid ganz allein zu Hause und wisst genau, da lauert jemand draußen, der euch bestehlen will und auch vor einem Einbruch nicht zurückschreckt.“

    „Einem Einbruch schon“, wandte Robin ein. „Aber auch Mord? Ich weiß nicht.“

    „Das werden wir wohl nie erfahren“, seufzte Uli. Er ließ sich in seinen Sessel zurückfallen und wartete einen Moment ab. Als keiner der anderen etwas sagte, grinste er sie unternehmungslustig an. „Aber es gibt etwas anderes, das wir herausfinden können“, meinte er in verschwörerischem Tonfall.

    Isabelle begriff als Erste, und mit dem Funkeln in ihren Augen sah sie ihrem Zwillingsbruder plötzlich noch viel ähnlicher als sonst. „Du meinst, wir sollten nachforschen, ob das, was Eleonore unter den Engeln versteckt hat, vielleicht noch da ist?“, hakte sie nach.

    „Genau das meine ich“. Es dauerte eine Weile, aber schließlich wirkte Ulis Begeisterung ansteckend. Plötzlich wurde auch Robin von Unternehmungslust gepackt.

    „Na dann“, strahlte er, „machen wir uns mal auf Schatzsuche!“

    Die Mädchen dagegen waren nicht so leicht zu überzeugen. Sophie überlegte einen Moment, dann meinte sie: „Das ist aber nicht besonders realistisch. Ihr glaubt doch nicht wirklich, dass noch niemand das Versteck gefunden hat? Immerhin ist es fast ein Jahrhundert her, dass Eleonore ihn versteckt hat.“

    „Aber möglich wäre es schon“, widersprach Uli energisch. „Es werden doch immer wieder Schätze gefunden, selbst welche, die schon seit mehreren Jahrhunderten verschollen waren. Ich finde, wir sollten uns einfach auf die Suche machen, dann werden wir ja sehen, was dabei herauskommt.“

    Anna verdrehte die Augen. „Du bist vielleicht witzig, wo sollen wir denn anfangen?“, stöhnte sie und beugte sich vor, um unter ihren Sessel zu schielen, sodass ihre blonden Haare über den dicken Teppich der Bibliothek strichen. „Hier ist der Schatz nicht. Sitzt vielleicht einer von Euch darauf?“, witzelte sie.

    Kröte, die inzwischen aufgewacht war, kam begeistert auf ihren krummen Beinchen angerannt. Wahrscheinlich dachte sie, Anna hätte unter dem Sessel etwas Essbares versteckt und wollte nun suchen helfen.

   „Haha, wie witzig du doch sein kannst“, bemerkte Isabelle genervt, und auch Uli fand das Ganze gar nicht komisch.

    „Hör auf mit dem Quatsch.“ Er sah sie mit tadelndem Blick an. „Wenn wir wirklich erfolgreich sein wollen, müssen wir methodisch vorgehen. Eine kopflose Suche hätte mit Sicherheit keinen Sinn.“

    Sophie runzelte die Stirn. Ihre Zweifel waren ihr deutlich ins Gesicht geschrieben. „Ich denke, das Ganze hat überhaupt keinen Zweck, kopflos oder nicht. Eleonores Schatz ist bestimmt nicht mehr in seinem Versteck. Viel wahrscheinlicher ist doch, dass er inzwischen schon gefunden wurde.“

    „Dann hätten meine Eltern aber bestimmt etwas davon erzählt“, wandte Isabelle kopfschüttelnd ein. „Schließlich haben wir sie ja nach allen Regeln der Kunst über Eleonore und ihre Geschichte ausgequetscht. Und von einem Schatzfund in unserer Familie hätten sie bestimmt gewusst.“

    „Außerdem hätte er ja nur durch einen Zufall gefunden werden können. Es wusste ja vor uns noch keiner von dem Tagebuch und von dem Versteck unter den Engeln“, fügte Uli hinzu.

    „Lasst uns doch einfach davon ausgehen, dass der Schatz hier noch irgendwo auf uns wartet“, schlug Robin vor und grinste in die Runde. „Selbst wenn sich am Ende rausstellt, dass alles umsonst war, kann so eine Schatzsuche doch ganz amüsant sein, findet ihr nicht?“

    Nachdem ihm alle zugestimmt hatten – Uli und Isabelle voller Begeisterung, Anna und Sophie etwas zögerlicher – überlegten sie, wie sie als Nächstes vorgehen wollten.

    „Ich schlage vor, wir versuchen zuerst herauszufinden, um was es sich bei unserem Schatz überhaupt handeln könnte“, begann Isabelle, die liebend gern Pläne schmiedete und Aufgaben verteilte. „Deshalb sollten wir versuchen, so viel wie möglich über diesen Graf von Dulkenberg herauszufinden.“

    Uli nickte zustimmend. „Ich könnte mich darum kümmern, ob noch Nachkommen der Dulkenbergs in der Gegend leben. Die könnten wir dann ausfragen, was der Typ so getrieben hat. Vielleicht hatte er ja eine spezielle Vorliebe, zum Beispiel für Gold oder wertvolle Gemälde.“

    „Oder für Rennpferde“, unterbrach ihn Anna spöttisch. „Es wäre doch toll, wenn wir unter den Engeln einen achtzigjährigen, verschrumpelten Gaul finden, der immer noch auf seine Rettung wartet.“

    „Wie wäre es denn, wenn du mich zu den Dulkenbergs begleitest, liebste Anna?“, erwiderte Uli mit vor Freundlichkeit triefender Stimme. „Ich bin mir sicher, mit deinem engelsgleichen Charme wirst du jedes Eis sofort zum Schmelzen bringen, und die Nachkommen des Herrn Grafen werden uns ihre gesamte Lebensgeschichte anvertrauen. Vorausgesetzt natürlich, dass es überhaupt Nachkommen gibt.“

    „Muss das sein?“ Anna verzog das Gesicht, willigte dann jedoch mit einem Achselzucken ein. Diese Aufgabe war zwar ganz und gar nicht nach ihrem Geschmack, aber sie wollte nicht noch zickiger wirken als eben, also würde sie eben mit Uli mitgehen. Und das nächste Mal halte ich meine Klappe, dann kann ich mir meine Aufgabe selbst aussuchen, schwor sie sich insgeheim.

    Sophie grinste. Sie kannte Anna ganz genau und konnte sich vorstellen, dass die Freundin über diese Aufgabe alles andere als entzückt war. „Okay, dann werde ich den Nachmittag im Stadtarchiv verbringen und in alten Zeitungen herumwühlen“, schlug sie vor. „Eine reiche Bankiersfamilie aus der Region müsste doch häufiger im Wirtschaftsteil erwähnt worden sein.“

    „Und vergiss die Klatschspalten nicht. Über Adelige gibt es doch immer jede Menge Gerüchte und Skandalgeschichten“, erinnerte sie Isabelle, schränkte dann aber ein: „Wenn es eine Berichterstattung über so etwas damals überhaupt schon gab.“

    „Ich schau mal, was ich finde“, nickte Sophie und kraulte Kröte, die sich quer über ihre und Robins Beine zu Schlafen ausgestreckt hatte, am Ohr.

    „Dann verziehe ich mich gleich nach Hause und recherchiere im Internet, ob ich Informationen über Eleonore oder den Grafen finde“, bot sich Robin an.

    „Du kannst auch hier in der Bibliothek bleiben, dann sparst du dir den Weg nach Hause“, meinte Uli. „Außerdem wird dich Frau Dürrheim bestimmt liebend gern während deiner Recherchen mit Leckereien versorgen.“

    Damit konnte er Robin sofort überzeugen, der gleich den Computer aus der Holzvertäfelung zog und einschaltete.

    „Und was machst du solange, Isabelle?“, erkundigte sich Anna. So ganz hatte sie die Hoffnung noch nicht aufgegeben, ihre ungeliebte Aufgabe abzuwälzen. Die anderen wussten doch, wie schwer es ihr fiel, mit wildfremden Leuten zu sprechen.

    „Ich denke, ich werde das ganze Haus vom Keller bis zum Dachboden durchforsten und jeden Engel untersuchen, den ich auftreiben kann“, lachte Isabelle. „Vielleicht habe ich ja Glück und stoße auf das Versteck.“

 

 

- Ende der Leseprobe -